Brief vom 30.09.1916

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I E.[ingang] 9.X Im Felde 30.IX.1916

Liebe Eltern!

Ich befinde mich wohl und ge-
sund und in so angenehmer Lage wie
nur je im Krieg.

Wir haben die Rumänen ge-
jagt bis über den Rothenturmpaß(1)
vermutlich. Ich verrate jetzt kein Geheim-
nis mehr, wenn ich jetzt Genaueres
schreibe. Die Ruhetage, die der Auffrischung
und Ergänzung an Material und Pfer-
den dienten, waren bald vorbei und
dann begann der Vormarsch. In der Nähe
von Hermannstadt(2) trafen wir den
R.[umänen.] Die Stellungen, die er inne hatte,
waren kaum ausgebaut. Unserem
Artilleriefeuer und dem wackeren
Angriff ungarischer Honved(3) hielt er nicht

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Anmerkungen:

(1) zentraler Durchbruch durch die südlichen Karpaten
(2) bedeutende Stadt in Siebenbürgen; im südlichen Siebenbürgen, direkt nördlich der Karpaten und nur wenige Kilometer nordöstlich des Rotenturmpasses gelegen
(3) landläufig für die königlich ungarische Landwehr ("Magyar Királyi Honvédség") als Teil der österreichisch-ungarischen Streitkräfte

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stand. Am selben Tag, an dem wir die ersten Schüsse feuerten, war der
Feind gewichen. Am nächsten Tag (dem 27/9) einige kleine Nachhut-
kämpfe und dann am 28/9 ging es vorwärts[.] Dreimal mußten wir
unverrichteter Dinge auffahren. Die Rumänen waren außer Schuß-
weite. Daß 4. mal endlich erwischten wir sie. Sie waren zwischen Heltau(1)
und Czod(2) zum Gegenangriff vorgegangen und gerieten in das
Feuer unserer Haubitzen. Mitten in die Schwärme aufgelöster Schützen-
linien schlugen unsere Geschosse. Und wieder liefen sie. Sie liefen
so rasch, daß wir sie wiederum bald aus dem Bereich der Geschütze
verloren. Vorwärts ging es wieder. Der 29.[9.] fand uns auf dem
Marsch nach dem Rothenturmpaß. Nun aber strömten dahin von
allen Seiten unsere Truppen. Deutsche und Ungarn zusammen. Nun
heißt es warten, bis die enge Paßstraße langsam alles durchläßt.
Ich liege mit der Batterie heute in Heltau in Ruhe.

Diese siebenbürgischen Örtchen sind prächtig, sauber,
wohlhabend und so heimatlich. Ich könnte meinen, daheim in

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Anmerkungen:

(1) Stadt wenige Kilometer südlich von Hermannstadt
(2) Stadt in Siebenbürgen, im Kreis Hermannstadt (auch: Michelsberg, rumänisch: Cisnadioara, ungarisch: Kisdizned, Kisdiznód)

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Schwarzwalds Höhen zu sein.
Sogar das Schweizer Vieh, wie
auf der [...] ist hier. Mächtige Mau-
ern um die Kirche in jedem Dorf
zeugen von vergangener Zeiten
Not. Die Kirche ist überall und
augenscheinlich der Mittelpunkt
des Dorflebens. Alle Kirchen sind
in mittelalterlicher Weise zur Burg
ausgebaut. Verteidigungstürme
umgeben das Schiff und den Chor.
Getreidespeicher mit wohlgefüllten
Fruchtschreinen sind an (a)die(a) Mauer
unter dem Wehrgang gebaut. Der
Kirchendiener und Pförtner wohnt
über dem wohlbefestigten Toreingang[.]
Das Pfarrhaus ist massig und schwer

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Anmerkung:

(a) überschrieben "den"

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II

an die Umfassungsmauer ange-
baut. Mit den Gewölben und Tor-
einfahrten erinnert mich der Pfarr-
hof von Heltau an das großväterliche
Haus in Überlingen(1). Pfarrherr in
Siebenbürgen möchte ich sein. Man
merkt an allem. Er, der Pfarrer
ist das Haupt der sächsischen Bevölke-
rung und sitzt auf einem Pfarr-
hof wie der Herr in seinem Schloß.

Und die Sachsen selber, stramme
Bauerngestalten und prächtige
Mädchen und Frauen. Bauerntracht
namentlich am Sonntag: Schwarze
Jacken mit Metallknöpfen. Die
Frauen gestickte Mieder, wie daheim.

Das Land aber ist reich und

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Anmerkung:

(1) Stadt am nördlichen Bodenseeufer.

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schön. Da wächst die Rebe und der Pfirsich, der Nußbaum und die Apri-
kose, köstliche Äpfel und Zwetschgen habe ich gegessen. Weithin reiche
Maisfelder, Weizen und Hafer ebenfalls. Eichenwälder auf
den Höhen mit Baumriesen(1) wie im Tierpark am Warten-
berg(2). Schweine, Federvieh in Fülle und das prächtige Schwein. Schweizer Vieh in großen Herden auch jetzt noch. Daneben den
ungarischen Büffel, schwarz mit zurückgebogenen Hörnern, der
kein gutes Fleisch, aber eine desto bessere Milch gibt, eine Milch,
wie man sie bei uns sich gar nicht denken kann.

Fast alle Dörfer haben neben der sächsichen(!) Bevölke-
rung einen rumänischen Volksteil mit eigener griech.[isch] orien-
talischer Kirche und eigenem Popen(3). Doch unverkennbar ist der
Sachse der Herr. So mag es kommen, dass in Siebenbürgen der
Deutsche, wo er als Herrenvolk auftrat seine Volksart so zäh
bewahrt hat. Der Walache, wie der Rumäne allgemein
genannt wird, besorgt die Feldarbeit auf den Feldern des Deutschen

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Anmerkungen:

(1) Baumriesen sind große und alte Bäume.
(2) Der Wartenberg in der Nähe der Stadt Calbe (Saale) ist mit seinen 121 Meter die höchste natürliche Erhebung in der südlichen Magdeburger Börde. Das Tiergehege existiert heute noch.
(3) orthodoxer Priester

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Besitzers gegen Naturallohn.
2 Teile dem Herren[,] 1 Teil
erhält der walachische Knecht.
Eine Wirtschaftsverfassung, wie
sie so oft vorkommt.

So ist das Land und das
Volk. Industrie ist wenig vor-
handen. Eine große Papierfa-
brik fand ich und eine Spinne-
rei. Im übrigen stellt hier das
Mädchen und die Hausfrau Tücher
und Linnen(1) am eigenen Web-
stuhl her.

Herzlichste Grüße. Bald
geht es weiter zum fröhlichen
Jagen.

Euer
August.

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Anmerkung:

(1) Ein Stoff, der aus einer Naturfaser aus der Flachspflanze hergestellt wird und beispielsweise als Leinwand benutzt wird.